35. Jahresversammlung am 09.10.2004 Zurück zur vorhergehenden Seite Zur Startseite (Übersicht)


Strafvollzugsarchiv - Rückblick, Einblick, Ausblick

Vortrag von Johannes Feest
auf der Jahresversammlung der Nothilfe Birgitta Wolf e.V., am 9.10.2004 in Murnau
(abgedruckt in: Burkhardt/Gräebsch/Pollähne, Korrespondenzen, Münster 2005)
 
Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte, liebe Frau Wolf
 
Murnau war für mich seit langem ein Platz der Verehrung. Zunächst wegen Gabriele Münter, etwas später wegen Birgitta Wolf.
 
Ich bedanke mich für die
* vielen Jahre der guten Zusammenarbeit mit der Nothilfe
* die freundliche Einladung und
* die Gelegenheit, Ihnen die Arbeit des Strafvollzugsarchivs vorstellen zu dür­fen, einer Einrichtung, welche, wenigstens in meiner Vorstellung immer so et­was wie ein jüngerer Brüder der Nothilfe war und ist.
 
Ich bin gebeten worden, einen Rückblick und Ausblick auf die Arbeit des Straf­vollzugsarchivs zu geben. Aber ich habe mir erlaubt, das Thema meiner Ausfüh­rungen ein wenig zu ergänzen, indem ich ihnen (neben Rückblick und Ausblick) auch etwas Einblick zu verschaffen erhoffe. Einblick vor allem in die Korre­spondenz mit Gefangenen, die ein zentraler Teil der Arbeit der Nothilfe, aber eben auch des Strafvollzugsarchivs und damit der größte gemeinsame Nenner unserer beider Projekte ist.
 
Vorweg sollte ich sagen, dass es nicht ganz leicht für mich ist, über die Arbeit des Strafvollzugsarchivs zu sprechen. Warum?
Zum einen geht es darum, einen Zeitraum von fast 30 Jahren zusammenzufassen (da haben viele Personen eine Rolle gespielt, auf die ich gerne näher eingehen würde, was aber offensichtlich den Rahmen sprengen würde)
Zum anderen ist es nicht leicht, über etwas zu sprechen, was einem sehr am Herzen liegt. In meiner stichwortartigen Gliederung habe ich daher versucht, einen möglichst sachlichen, berichtenden Ton zu finden. Ich bitte mir nachzuse­hen, wenn ich an der einen oder anderen Stelle aus dem Konzept falle und Asso­ziationen nachgehe, die sich mir aufdrängen.
 
Zunächst also:
ein kurzer Rückblick auf die Entstehung des SVA.
 
I. Rückblick: Wie ist es zum „Strafvollzugsarchiv“ gekommen?
 
1. Als Geburtsjahr des SVAkann man das Jahr 1977 ansehen. Man muss aber schnell hinzufügen, dass dieser Geburt keine sehr geordnete Familienplanung vorausgegangen war. Vielmehr eine Serie von Zufällen:
·        ein relativ junger Wissenschaftler hatte den Ruf an die damals ziemlich neue, aber auch allem Neuen aufgeschlossene, Universität Bremen erhalten, auf eine Stelle, die mit den Worten „Strafverfolgung, Strafvollzug, Strafrecht“ umschrieben war;
·        er hatte recht wenig Ahnung vom Strafvollzug; vielmehr verdankte er seine Berufung vor allem einer Untersuchung der Polizei (übrigens in München), also "Strafverfolgung" und "Strafrecht", aber eben nicht Strafvollzug.
 
Daß sich dies bald ändern sollte, hatte mehrere Gründe:
·        im Bremer Strafvollzug gab es damals einen ebenfalls jungen, neu berufenen Anstaltsleiter. Er hieß Ehrhard Hoffmann, war ein echten Reformer und suchte von Anfang an Kontakt und Kooperation mit der Universität;
·        an der Universität propagierte die Notwendigkeit, einer engeren Verbindung von Theorie und Praxis ("Projektstudium");
·        und im Jahre 1977 war das erste deutsche Strafvollzugsgesetz in Kraft getre­ten, welches der Vergeltung abschwor und die Resozialisierung der Inhaf­tierten in den Mittelpunkt stellen wollte.
 
Aus alledem entwickelten sich ziemlich schnell drei verschiedene, aber durchaus komplementäre Projekt: a) eine Rechtsberatung durch Studierende im lokalen Strafvollzug, b) ein Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (bekannt als Alterna­tivkommentar oder AK), c) das Strafvollzugsarchiv.
 
2. Das Strafvollzugsarchiv hatte allerdings zunächst gar keinen Namen, es be­stand einfach aus den Materialien, die zur Vorbereitung des Alternativkommen­tars gebraucht wurden (Gesetzesbegründungen, Rechtssprechung, Literatur zum Strafvollzug). Die Taufe auf den Namen "Strafvollzugsarchiv" erfolgte erst ei­nige Jahre später (im Jahre 1983). Auch dieser Name war nicht von langer Hand geplant, sondern ad hoc erfunden, aufgrund der Notwendigkeit, an der Univer­sität Bremen einen sinnvollen Arbeitsplatz für einen ausserordentlichen Men­schen zu finden. Einen Menschen von ungewöhnlichem Fleiss und grosser Energie, der sich fast drei Jahrzehnte lang enormes Wissen über deutsche Ge­fängnisse erarbeitete hatte. Er hatte eine Reihe von Aufsätzen und ein höchst originelles Buch zu diesem Thema publiziert, war 1980 Mitarbeiter der ersten Auflage unseres Kommentars geworden und hatte sogar schon einen Gastvor­trag an der Universität Bremen gehalten. Er schien also beste Voraussetzungen für einen Arbeitsplatz in diesem Forschungsfeld mitzubringen. Es gab jedoch ein paar kleinere Probleme: er verfügte weder über einen nachweisbaren Schulabschluss noch über einen Paß; seine Herkunft und Nationalität waren ebenso unsicher, wie sein Name und sein Geburtsdatum. Und zu alledem ver­büßte er, in „Santa Fu“, in Hamburg-Fuhlsbüttel eine lebenslange Freiheits­strafe. Für diesen Denis Pécic suchte sein Anstaltsleiter, Dr. Heinz Stark, eben­falls eine ausserordentliche Persönlichkeit, eine Stelle als Freigänger und diese Stelle sollte irgendetwas mit Bibliothek zu tun haben, weil Denis die Gefängnisbüche­rei in Hamburg seit Jahren mit großem Geschick geleitet hatte. Da die Univer­sitätsbibliothek ihn noch nicht einmal als Hilfskraft an der Garderobe brauchen konnte, wurde die Idee produziert, seinen Arbeitsplatz als „Strafvollzugsarchiv“ zu umschreiben. Damit war ein Name geschaffen, den wir seither mehr oder weniger erfolgreich auszufüllen versuchen.
 
3. Was hat man sich unter dem Strafvollzugsarchiv vorzustellen?
 
Heute verstehen wir darunter ein Archiv für Recht und Rechtswirklichkeit in Gefängnissen. Die Sammlung und Zusammenstellung von Material erfolgte zu­nächst ganz schlicht in Ordnern; seit 1998 wird das Material bibliographisch per Computer als Datenbank erfasst.
 
Hinzu kam bald, und unter dem Einfluss von Denis Pécic zunehmend, eine enorme Korrespondenz mit Gefangenen, die uns nach seinem Ausscheiden er­halten geblieben ist. Da wir diese Korrespondenz bald nicht mehr bewältigen konnten, begannen wir uns durch Entwicklung von Infos zur Beantwortung häu­fig wiederkehrender Fragen zu behelfen. Diese Infos schicken wir einzelnen Ge­fangenen, bieten sie aber auch den Gefangenenzeitungen zum Abdruck an. Ins­gesamt werden sie, in einer Broschüre der Deutschen AIDS-Hilfe, nun schon in 6. Auflagen, nachgedruckt.
 
Diese Korrespondenz führt auch immer wieder zu kleinen und größeren For­schungsprojekten. Ich will versuchen, Ihnen diesen Zusammenhang an einem besonders herausragenden Beispiel zu beschreiben: Im Laufe der 80er-Jahre tauchte in den Briefen der Gefangenen immer wieder die Information auf, ein­zelne Anstalten würden sich weigern, gegen sie ergangene Gerichtsentscheidun­gen umzusetzen. Wir reagierten darauf zunächst sehr skeptisch, entschlossen uns aber letztlich zu einem Aufruf in den Gefangenenzeitungen, in dem wir baten, uns dokumentierbare Fälle zugänglich zu machen. Dies führte zu einer ersten Dokumentation von 12 solchen Fällen. Als wir diese Ergebnisse damals in ei­nem Aufsatz über „renitente Vollzugsbehörden“ veröffentlichten, stieß dies nunmehr auf Ungläubigkeit bei den Fachkollegen. Deutsche Beamte seien durch Tradition und Eid dazu verpflichtet, sich an Recht und Gesetz zu halten, hiess es; deshalb könne so etwas nicht vorkommen. Und dies veranlasste uns zu ei­nem richtig umfangreichen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finan­zierten, Forschungsprojekt. Wir identifizierten zunächst 100 Fälle, in denen Ge­fangene gegen ihre Anstalt vor Gericht gewonnen hatten. Und dann fragten wir in jedem dieser Einzelfälle sowohl die Gefangenen als auch ihre Anstaltsleiter nach der Umsetzung der betreffenden Entscheidung. Das ernüchternde Ergebnis kann man in dem Buch „Rechtsschutz in der totalen Institution“ nachlesen.
 
4. Wie wird das finanziert? Wer arbeitet da? Was ist die  uinstitutionelle Anbin­dung des Archivs?
Die Korrespondenz mit Gefangenen ist nur schwer als eine akademisch-wissen­schaftliche Tätigkeit darstellbar. Deshalb ist dafür kein Geld von der Universität zu erwarten. Sie bietet uns Freiraum für eine wesentlich ehrenamtliche Arbeit. Freiraum im doppelten Sinne: die Universität stellt einen Archiv-Raum und sie mischt sich, im Sinne der Freiheit von Forschung und Lehre, inhaltlich nicht in die Arbeit ein. Aber finanzielle Förderung ist allenfalls im Zusammenhang mit Neuauflagen des Alternativkommentars zu bekommen. Die Arbeit ist also weit überwiegend ehrenamtlich: erfreulicherweise gibt es immer wieder einzelne Studierende, Promovierende etc., die mir helfen, Briefe zu beantworten, Infos zu entwerfen etc.
Eine weitere institutionelle Anbindung besteht zum Verein für Rechtshilfe im Justizvollzug des Landes Bremen e.V., der ehrenamtlich die Rechtsberatung in Bremer Haftanstalten durchführt. Über diesen Verein war es zweimal möglich, für kurze Zeit eine hauptamtliche Kraft aus Mitteln des Arbeitsamtes für die Ar­chivarbeit zu gewinnen. Aber diese Zeiten sind jetzt ohnehin vorbei (da ein im­mer höherer Prozentsatz an Selbstbeteiligung verlangt wird, den wir nicht auf­bringen können).
 
II. Einblick: Woraus besteht die Korrespondenz des Strafvollzugsarchivs?
 
Der heutige Vortrag war mir ein willkommener Anlass, mir selbst darüber Klar­heit zu verschaffen. Eine kleine Auswertung der Briefe der letzten Monate (Fe­bruar-September 2004) hat ergeben, daß wir ca. 50 Briefe pro Monat erhalten und beantworten.
 
1. Woher kommen die Briefe (und neuerdings auch emails):
Sie kommen fast durchwegs von Gefangenen, seltener von Angehörigen, An­wälten oder Vollzugspersonal.
Bekanntlich sind Gefangene genauso verschiedene Menschen, wie wir alle ande­ren auch. Dementsprechend bunt und unterschiedlich sind die Briefe, die wir erhalten. Das Spektrum reicht von Gefangenen, die kaum des Schreibens mäch­tig sind, zu solchen, die sich im Gefängnis erhebliche juristische Kenntnissse angeeignet haben. Vor allem mit den Letzteren kommt es gelegentlich zu länge­ren Korrespondenzen, manchmal zu einem regelrechten Austausch fachlichen Wissens und juristischer Strategien (vgl. auch hierzu das Buch "Rechtsschutz in der totalen Institution").
 
Briefe erhalten wir aus allen Bundesländern, gelegentlich auch von deutschen Gefangenen aus dem Ausland. Überdurchschnittlich viel Briefe übrigens aus Bayern, gefolgt von NRW, Niedersachsen, Hessen und Baden-Württemberg.
 
2. Worum geht es?
Auch wir erhalten immer wieder Briefe von Gefangenen, die schlicht Kontakt suchen und hoffen, in uns oder über uns ständige Briefpartner zu finden. Das ist nicht unsere Stärke und wir müssen diese Menschen letztlich enttäuschen. Es hat sich aber herumgesprochen, dass man sich an uns in Rechtsfragen des Strafvoll­zuges wenden kann und das tun denn auch die weitaus meisten.
 
Die rechtlichen Themen sind bunt gestreut und umfassen den ganzen Alltag des Gefängnislebens, aber auch Fragen der Entlassung (einschließlich der Begnadi­gungsmöglichkeiten). Dabei ist übrigens über die Jahrzehnte ein Wandel der Themen, die jeweils im Vordergrund stehen, zu verzeichnen:
·        in den 70er-Jahren war es der Wunsch nach dem eigenen Fernsehapparat
·        in den 80er-Jahren mit ihren überfüllten Anstalten war es der Kampf gegen die Nehrfachbelegung von Zellen;
·        in den 90er-Jahren das Arbeitsentgelt, welches entgegen allen Versprechun­gen immer noch nur 5 Prozent betrug
·        in letzter Zeit stehen Fragen der Haftkosten, insbesondere Stromkosten im Vordergrund.
Der Trend geht also von eher offensiven Fragestellungen zu mehr defensiven. Daneben tauchen aber auch immer neue, überraschende Themen auf, z.B. die Frage, ob Gefangene in ihrer Muttersprache sprechen bzw. schreiben dürfen.
 
3. Was für Abhilfemöglichkeiten können wir bieten?
Die Beantwortung der Briefe ist sehr zeitaufwendig, nicht nur dann, wenn sie komplizierte Rechtsfragen enthalten. Allein schon das Lesen längerer Briefe überfordert uns manchmal. Dennoch gehört es zu unserem Stolz, auf alle Briefe möglichst schnell zu reagieren. Es passiert leider dennoch immer wieder, daß wir in Rückstand geraten und (insbesondere in Urlaubszeiten, aber auch wenn die Lehrveranstaltungen und Prüfungen alle Kräfte binden).
 
Bei unseren Antworten handelt es sich meist um rechtliche Auskünfte, Rat­schläge, alles in allem: Hilfe zur Selbsthilfe. Wir sind allerdings überfordert, wenn Gefangene in grossem Stil von uns Gerichtsentscheidungen etc. kopiert haben wollen. Wir ziehen es vor, wenn uns genauer geschrieben wird, worum es geht, damit wir burteilen können, ob die gewünschten Gerichtsentscheidungen dafür wirklich nützlich sind.
 
Nicht selten wünschen unsere Korrespondenten die Übersendung von einzelnen Infos bzw. der Broschüre "positiv in haft". Leider befinden wir uns deshalb seit 2002 in einem noch nicht endgültig entschiedenen Rechtsstreit mit dem Freistaat Bayern. Es fing damit an, daß ein Lebenslänglicher aus der JVA Straubing die Broschüre bei uns anforderte, sie aber in der Anstalt nicht ausgehändigt bekam. Argument: Gefangene würden durch die Broschüre verleitet, "unötige" Be­schwerden zu schreiben und vor die Gerichte zu gehen. Dies könnte die Ord­nung der Anstalt stören und müsse daher unterbunden werden. Der Einwand, dass die Broschure seit vielen Jahren in hohen Auflagen in sämtliche Anstalten verschickt worden war, ohne, dass es zu Unruhen und Aufständen gekommen wäre, fruchtete nichts. Die Gerichte in Regensburg und Nürnberg gaben der An­stalt recht. Seit Anfang 2003 liegt die Sache beim BVerfG, weil wir meinen, daß durch das Verhalten der Anstalt sowohl die Informationsfreiheit des Gefangenen als auch unsere Freiheit, juristische Information zu verbreiten, verletzt ist.
 
Nur noch selten raten wir Gefangenen, den Rechtsweg zu beschreiten. In der Broschüre "positiv in haft" folgender "warnender Hinweis":
"Mit Beschwerden gegen die Anstalt vor Gericht zu gehen, ist für die mei­sten Gefangenen fast immer sinnlos. Der Rechtsweg dauert meist viel zu lange, bringt nur in wenigen Fällen Erfolg, kann aber zu vollzuglichen Nachteilen führen".
Wir raten den Gefangenen in der Regel, das Gespräch mit dem Anstaltsleiter zu suchen, Kontakt mit dem Anstaltsbeirat aufzunehmen, eventuell die Aufsichts­behörde bzw. den Petitionsausschuß des Parlaments anzurufen.
"Wenn diese Schritte nichts bringen, wird meiste auch der Rechtsweg nicht weiterhelfen... Nur wer einen sehr langen Atem hat und auch Mißerfolge er­tragen kann, sollte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen".
 
Nur ausnahmsweise nehmen wir selbst direkten Kontakt zur Anstalt auf. Ein solches Beispiel war kürzlich die Frage der Sprachrechte im Gefängnis, wo ich allen betroffenen Anstaltsleiter den Entwurf eines Infos schickte und sie um Stellungnahme bat. Und übrigens auch von allen Antwort erhielt.
 
Überhaupt nicht übernehmen wir selbst die juristische Vertretung von Gefange­nen. Mir als Hochschullehrer wäre eine solche Vertretung grundsätzlich möglich (ohne Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz), aber zeitlich wäre es nicht zu leisten. Was wir tun können ist, Kontakt zu Anwälten zu vermitteln.
 
4. An diesem Punkt ist sicherlich schon offensichtlich geworden, daß wir auf Kooperation und Arbeitsteilung mit anderen Organisationen angewiesen sind.
·        Nothilfe Birgitta Wolf e.V. (wenn es eher um nicht-juristische Hilfe geht)
·        Komitee für Grundrechte und Demokratie (wenn es eher um rechtspolitische Themen geht, die an die Öffentlichkeit gebracht werden müssen)
·        BAG Straffälligenhilfe (primär als Informationsquelle, mit einem sehr infor­mativen Rundbrief)
·        Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur (Uni Münster) = Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangenen (für die schreibenden Gefangenen)
* www.knast.net (beste, informationsreichste Web-Page).
 
III. Ausblick: welche Aussichten hat diese Arbeit in der nächsten Zukunft?
 
Seit den Anfängen des Strafvollzugsarchivs hat sich im Strafvollzug einiges ge­ändert, was für die Zukunft des Archivs eine Rolle spielen dürfte. Deshalb zu­nächst ein kurzer Seitenblick auf den Strafvollzug.
 
1. Als des Strafvollzugsarchiv gegründet wurde war der Strafvollzug in einer Phase des reformatorischen Umbruchs. Die Parole der Reformer war: "weg vom Verwahrvollzug". Das bedeutete:
·        Resozialisierung durch Behandlungsangebote, insbesondere Sozialtherapie;
·        Lockerungen/Öffnungen des Vollzuges;
·        Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten für Gefangene;
·        Angleichung des Lebens in der Anstalt an die normalen Lebensverhältnisse;
·        Forderungen nach Reduzierung, ja Abschaffung der Knäste.
Nicht alle diese Forderungen waren realistisch, aber viele von uns glaubten daran und engagierten sich dafür. Und das Strafvollzugsgesetz trug fast allen von ihnen Rechnung, auch wenn vieles bis heute nicht umgesetzt wurde.
 
Seit einigen Jahren hat sich das kriminalpolitische Klima drastisch gewandelt:
·        Sicherheit wird vielfach wieder zum oberster Grundsatz erklärt;
·        es ist ein drastischer Rückgang der Lockerungen zu verzeichnen;
·        und (in der Konsequenz) ein Absinken der Entlassungen zur Bewährung;
·        dies führt zu längeren Haftzeiten und überfüllten Anstalten.
 
Übrigens gibt es dabei auch grosse Unterschiede zwischen den Bundesländern. So ist die Chance eines Gefangenen, Lockerungen des Vollzugs zu erhalten heute in Berlin 5 mal so hoch wie in Bayern und zehn mal so hoch wie in Sach­sen-Anhalt.
 
Eine gewisse Hoffnung ist dabei die notwendige Europäisierung auch des Ge­fängniswesens? Noch ist sie sehr schwach und hat noch kaum Eingang in die Europäische Union gefunden. Aber der Europarat hat einige wichtige Institutio­nen hervorgebracht, die zu einer gewissen Hoffnung Anlaß geben. Ich spreche von den European Prison Rules (einer Reihe von Empfehlung für alle Mitglieds­staaten) und vom Committee for the Prevention of Torture, welches die Haftorte aller Mitgliedsstaaten jederzeit inspizieren darf und sich dabei an den European Prison Rules orientiert. Allerdings hat der Europarat, was den Strafvollzug be­trifft, andere Sorgen: vor allem in Rußland, aber auch in der Türkei bestehen Probleme in den Gefängnissen, neben denen wir in Deutschland keine zu haben scheinen.
 
 
2. Und wie soll es mit dem Strafvollzugsarchiv weitergehen?
 
Ich habe diesen Vortrag mit der Geschichte eines jungen Hochschullehrers be­gonnen. Er ist inzwischen fast dreißig Jahre älter und scheidet im Frühjahr 2005 aus dem aktiven Hochschuldienst aus. Er ist aber entschlossen, sich ein Beispiel an Birgitta Wolf zu nehmen. Das bedeutet: die Arbeit fortzusetzen und zu versu­chen, sie von der eigenen Person unabhängig zu machen, sie zu institutionalisie­ren. Dazu ein paar abschließende Worte.
 
Für das Jahr 2005 ist eine Neuauflage des AK StVollzG geplant. Das wird uns, den zwanzig Autoren dieses Werkes, Gelegenheit geben, einige der neuen Voll­zugsentwicklungen kritisch aufs Korn zu nehmen. Dazu gehört insbesondere der Versuch einiger Bundesländern (allen voran Bayern und Hessen), das Strafvoll­zugsgesetz zu unterlaufen. Da mindestens die bayerischen Gerichte diesen Son­derweg juristisch bisher abgesichert haben, ist der Bundesgerichtshof gefragt, die Einheit der Rechtsprechung und der Rechtsordnung wieder herzustellen.
 
Seit langem hat Birgitta Wolf die Forderung erhoben, die skandinavische Insti­tution des Ombudsman, das heißt eine zentrale staatliche Beschwerde­instanz gegen die Übermacht der (Gefängnis-) Verwaltung auch in Deutschland zu eta­blieren. Das ist nicht gelungen und müßte im föderalen Deutschland wohl auch auf Landesebene passieren. Vielleicht ist es momentan wichtiger, Institutionen der Zivilgesellschaft als Kontrollinstanzen zu stärken und zu vermehren. Birgitta Wolf und ihre Nothilfe haben jahrzehntelang als informelle, zivile Ombuds-In­stitution funktioniert. Diesem Vorbild sollten andere folgen und mehr Öffent­lichkeit in den Gefängnissen herstellen. Auch das Strafvollzugsarchiv könnte und sollte diese Seite seiner Tätigkeit verstärken.
 
Es ist nicht zu erwarten, daß dieses Projekt ausschließlich aus Mitteln der Uni­versität Bremen weiter finanziert werden kann. Dafür sind manche seiner Kernaktivitäten, wie schon gesagt, nicht akademisch genug. Eine stärker euro­päische Orientierung des Archivs könnte hier neue Impulse bringen, eventuell auch Interesse in Brüssel finden, wo Fragen des Strafvollzuges mittelfristig auf der Tagesordnung stehen werden. In jedem Fall werden wir demnächst versu­chen, dem Archiv eine neue juristische Grundlage zu geben. Diese könnte die Form eines Stiftungsvereins haben, der mit der Universität kooperiert.
 
 
 
 
 
 
 
 
Auswahl von Veröffentlichungen
(aus dem Umkreis des Strafvollzugsarchivs)
 
Wege aus der Gesetzlosigkeit. Rechtslage und Regelungsbedürftigkeit des Jugendstrafvollzugs
herausgegeben von Helmut Pollähne, Kai Bammann und Johannes Feest
Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg 2004.
Ausländer im Vollzug
von Kai Bammann, in: Willi Pecher (Hrsg.) Justizpsychologie in Schlüsselbegriffen, Stattgart 2004, 15-25.
Strafvollzug zwischen Sicherheit und Behandlung. Wo bleibt die Menschenwürde?
von Johannes Feest
in: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik (Hrsg.) Ist die Menschenwürde unantastbar? Wie steht es mit Strafvollzugsbediensteten, Gefangenen und ihren Opfern? Frankfurt 2003, 31-38.
Kommunikation mit Gefangenen: eine Verfassungsbeschwerde
von Johannes Feest, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie. Jahrbuch 01/02, Köln 2002, 191-202.
Infos des Strafvollzugsarchivs zu rechtlichen Fragen
in: Deutsche AIDS-Hilfe (Hrsg.) positiv in haft, 5. Auflage (bearbeitet von Martin Specht), Berlin 2001
(Neuauflage, bearbeitet von Kai Bammann, erscheint demnächst).
Alternativsymposium zum Strafvollzug
herausgegeben vom Bremer Institut für Kriminalpolitik
Bremen: Universität 2001
Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG)
herausgegeben von Johannes Feest, Autoren: Kai Bammann, Claus Bertram, Axel Boetticher, Albrecht Brühl, Wolfgang Däubler, Konrad Huchting, Erich Joester, Helmut Kellermann, Herbert Koch, Karl-Heinz Lehmann, Wolfgang Lesting, Edelgart Quensel, Gerhard Rehn, Margret Spaniol, Heino Stöver, Bernd Volckart, Joachim Walter, Elke Wegner, Thilo Weichert.
4. Auflage, Neuwied: Luchterhand 2000 (Neuauflage in Vorbereitung).
Die Unterbrechung der Strafvollstreckung bei Auslieferung oder Ausweisung
von Kai Bammann, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 2001, 91-106.
Menschenunwürdige Behandlung von Gefangenen in Deutschland. Vorhandene Kontrollinstanzen, Pro­bleme und Alternativen
von Johannes Feest und Kai Bammann
in: Richard Reindl/Gabriele Kawamura (Hrsg.) Menschenwürde und Menschenrechte im Umgang mit Straffälli­gen, Freiburg: Lambertus 2000, 61-76.
Grundrechtsverstöße in Gefängnissen
von Johannes Feest
in: Grundrechte-Report 1998: Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Reinbek: Rowohlt 1998, 273-280.
Totale Institution und Rechtsschutz. Eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug
von Johannes Feest, Wolfgang Lesting und Peter Selling
Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.
Rechtsberatung für Gefangene. Plädoyer für universitäre Beratungsprojekte
von Johannes Feest, in: Heinz Müller-Dietz/Michael Walter (Hrsg.) Strafvollzug in den 90-er-Jahren, Pfaffen­weiler: Centaurus 1995, 151-158.
Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
von Johannes Feest und Christine Wolters
Bremen: Universität 1994.
Über den Umgang der Justiz mit Kritik. Am Beispiel von juristischen Ratgebern für Gefangene
von Johannes Feest, in: Kritische Justiz, 1991, 253-264.
Zensur von Gefangenenzeitungen
von Wolfgang Lesting und Johannes Feest
in: Gefangenenliteratur, hrsgg. von Uta Klein/Helmut Koch
Hagen: Padligur 1988, 178-186.
Normalisierung im Strafvollzug. Potential und Grenzen des § 3 Abs.1 StVollzG
von Wolfgang Lesting
Pfaffenweiler: Centaurus 1988.
Renitente Vollzugsbehörden: eine rechtstatsächliche Untersuchung in rechtspolitischer Absicht
von Wolfgang Lesting und Johannes Feest
 in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1987, 390-393.
Querulanz im Gefängnis
von Johannes Feest und Denis Pécic, in: Vorgänge, 1985, 46-49 (Themenheft: Querulanz als Gegenwehr).

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