Birgitta Wolf - Nachruf von Prof. Dr. Christian Pfeiffer Zurück zur vorhergehenden Seite Zur Startseite (Übersicht) Weiter zum nächsten Thema

Die Ombudsfrau des deutschen Strafvollzuges

Wenn ich an Birgitta zurückdenke, fallen mir als erstes ihre lachenden Augen ein und ihre kraftvolle Stimme. Sie war eine wirklich lebensbejahende Frau mit unendlich viel Wärme, mit Freiheit im Kopf und großem Mut. Sie hatte Courage. Und deshalb hat ihr die Fraktion Der Grünen im Bayerischen Landtag 1996 den „Courage“-Preis verliehen. Damals durfte ich die Laudatio halten. Zur Vorbereitung dieser Rede hatte ich Birgitta gefragt: „Wie bist du eigentlich zu einer derart mutigen Person geworden? Was war die Quelle deiner Kraft?“ Ihre Antwort kam sofort: „Meine glückliche Kindheit und Jugend“. Und dann erzählte sie mir farbig und detailreich herzerfrischende Geschichten, auf die ich aus Platzgründen nur kurz eingehen kann.

Birgitta ist in einem märchenhaften Schloss in Schweden aufgewachsen, umgeben von den kleinen Holzhäusern der Arbeiter, deren viele Kinder ihre liebsten Spielkameraden waren. Ihr Vater, Graf von Rosen, war zwar nach ihrer Schilderung ein Patriarch von altem Schrot und Korn – also durchaus schon mal jähzornig aufbrausend, wenn ihm seine sechs Kinder gar zu sehr auf den Geist gingen. Aber sie als viertes Kind hat es nicht mehr so hart getroffen. Im Gegenteil: er hat sie immer ermutigt, es ihm deutlich zu sagen, wenn er aus ihrer Sicht ungerecht gewesen war. So hat sie eine Art Pippi-Langstrumpf-Kindheit gehabt – geprägt von großen Freiräumen, viel Liebe und wenig Ängsten.

Als ungezähmte, wilde kleine Schwester hat sie offenbar auf einen ihrer Brüder, den Grafen Björn von Rosen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er hat sie jedenfalls als Schriftsteller später in einem Kinderbuch verewigt. Es trägt den schönen Titel „Das Märchen von der ungehorsamen Adeli-Sofi und ihrer furchtbaren Begegnung mit dem Wassermann“. Birgitta hat dieses Kinderbuch Anfang der 40-er Jahre ins Deutsche übersetzt. Bald nach seinem Erscheinen wurde es dann jedoch im Jahr 1944 als „Entartete Kunst“ eingestuft und verboten.

Was war daran so gefährlich für die Nazis? Das war offenkundig die Beschreibung eines kleinen Mädchens, das lustvoll ungehorsam ist. Ich zitiere:

Wir möchten auch mal was Verbotenes tun,
nur Ungezogensein macht richtig froh.

Gewissermaßen zur Strafe dafür, dass Adeli-Sofi sich diesem Grundsatz gemäß verhält, wird sie vom mächtigen Wassermann in die Tiefen des Meeres entführt. Aber glücklich wird er mit ihr nicht. Alles Drohen, Umwerben und Flehen hat keine Wirkung. Sie schweigt. Ich zitiere:

Da sprach sie endlich - doch das Wort war: „Nein!“
Sie öffnete den Mund und schrie und schrie und schreien konnte Adeli-Sofi.
Sie hatte es schon oft geübt zu Haus und brachte jetzt die höchsten Töne raus.

Und wie geht es weiter? Der Wassermann gibt entnervt auf und bringt Adeli-Sofi ans Ufer zurück. Und die Moral von der Geschicht’? Sie steht in den letzten beiden Zeilen:

Wenn man nur genügend schreien kann, setzt man sich durch –
auch bei dem Wassermann.

Klar, dass die Nazis diese Geschichte des erfolgreichen Widerstands eines Kindes nicht geliebt haben. Ich denke, das Märchen ist symbolisch für das Leben von Birgitta Wolf. Sie hat immer dann laut aufgeschrieen, wenn ihr sinnloses Leiden begegnet ist, das andere Menschen absichtlich verursacht haben. Sie hat die Öffentlichkeit alarmiert. Und sie hat mit dem Schreien erst dann aufgehört, wenn die Behörden, die Ministerien oder die verantwortlichen Mitmenschen endlich reagiert und dem jeweiligen Missstand abgeholfen haben.

Damit wäre ich in meinem Nachruf eigentlich schon bei der Birgitta angelangt, die uns als sogenannter „Engel der Gefangenen“ bekannt geworden ist. Aber ich bitte um etwas Geduld. Noch einmal will ich Birgittas Jugend ins Blickfeld nehmen, weil in ihr so viel von dem angelegt wurde, was sie später in ihrem Leben getan hat.

Ich habe es schon erwähnt – am liebsten spielt sie mit den Arbeiterkindern in den Wäldern rund um den geliebten See. Und weil sie im Bogenschießen, im Segeln und im Raufen bestens mit den Jungs mithalten kann – beispielsweise wird sie 1929 schwedische Jugendmeisterin im Bogenschießen – wählt ihre Gruppe sie zu ihrer großen Freude zum Räuberhauptmann. So wird Birgitta zu einem weiblichen Robin Hood, der sich schon in der Jugendzeit für diejenigen einsetzt, die am Rande der Gesellschaft stehen. Dazu ein Beispiel:

Am 23. April 1923 lädt sie als damals 16-Jährige im Arbeiterviertel ihres Städtchens für 19:00 Uhr in das sogenannte „Haus des Volkes“ zu ihrem ersten öffentlichen Vortrag ein. Das Thema lautet: „Vorschlag zur Bildung eines Kameradenclubs in Sparreholm“. Sie will eine Art Freizeitverein für all diejenigen gründen, die nirgends so richtig dazugehören und als Habenichtse zum Herumlungern und Zuschauen verurteilt scheinen. Und weil Birgitta davon ausgeht, dass der Saal zu klein sein würde für die vielen Jugendlichen und Erwachsenen, die zuhören wollen, hat sie auf dem Plakat angekündigt, dass sie am selben Tag um 20:30 Uhr den Vortrag noch einmal halten werde. An Sendungsbewusstsein und Selbstvertrauen hat es ihr wahrlich nie gefehlt.

Ein weiteres Beispiel für ihre außergewöhnliche Courage bietet sie ihren Familienangehörigen und Freuden ein Jahr später als 17-Jährige. Damals ist sie zu Besuch in der Schweiz und reist mit dem Zug von Genf nach Luzern. Unterwegs hält der Zug. Auf dem Nachbargleis schaut ein attraktiver junger Mann aus dem Fenster eines Zuges, der gerade aus der Gegenrichtung einfährt. Als er Birgitta erblickt – eine hinreißende nordische Schönheit, die ihn herzlich anlächelt - ist es um ihn geschehen. Er springt aus dem Zug, wechselt hinüber und nimmt gegenüber Birgitta Platz. Der Schaffner, der kurze Zeit später seinen Fahrschein kontrolliert, meint zwar noch: „Junger Mann, Sie sind im falschen Zug.“, aber die beiden jungen Leute sind da offenkundig ganz anderer Ansicht. Einige Stationen später – dort, wo der junge Mann zuvor sein Auto geparkt hat – steigen sie beide aus und starten in dem Zweisitzer ihre Reise in ein gemeinsames Leben. Drei Jahre später heiraten sie. Und weil er Deutscher ist, landet Birgitta auf diese Weise im Jahr 1933 im Schwarzwald.

Hier in unserem Land verkehrt sie alsbald im Kreis der mächtigsten Nazi-Größen. Als Verwandte Hermann Görings – er hat Karin, die jüngere Schwester ihrer Mutter geheiratet – ist sie oft bei ihm aber auch bei Goebbels, bei Speer und sogar bei Hitler zu Gast. Das verführt sie aber nicht. Sie bleibt, wie wir gleich sehen werden, ganz die alte.

Die ersten Jahre in Deutschland ist Birgitta Wolf noch primär damit beschäftigt, verliebt zu sein, Kinder in die Welt zu setzten und ihr Familienleben zu gestalten. Doch das ändert sich schlagartig, als 1936 die Frau eines Arbeiters, Robert Haist, zu ihr kommt und um Rat und Hilfe bittet. Sie erzählt ihr, dass ihr Mann sozialistische Flugblätter mit der Aufforderung zum Widerstand gegen Hitler verteilt hat. Er sei dabei verhaftet worden und sei seitdem verschwunden. Die Frau befürchtet, dass die Gestapo ihn in ein KZ-Lager abgeschoben hat und dort umbringen würde. Birgitta Wolf zögert nicht lange. In einem Gemisch von Empörung und Naivität schreibt sie einen ziemlich impertinenten Brief an den damaligen Leiter des Sicherheitsdienstes der SS, Reinhard Heydrich. Sie schildert die Situation und ihr völliges Unverständnis für die Handhabung des Falles. Sie fordert, dass der Mann, falls er sich strafbar gemacht habe, einem ordentlichen Gericht zugeführt werde und dass man seine Adresse seiner Ehefrau mitteilt. Und das Wunder geschieht. Der Mann wird verurteilt, sitzt noch einige Zeit im Gefängnis und überlebt die Nazi-Zeit.

Seit dieser Geschichte hat Birgitta ihre Augen offen. Mehr und mehr begreift sie, was wirklich in Deutschland abläuft. Und sie engagiert sich. Dazu drei Beispiele:

Damit sind bereits in den Jahren 1936 bis 1945 die drei Elemente der späteren Arbeit von Birgitta Wolf erkennbar, die ab Mitte der 50-er Jahre ihren Alltag prägen: die Gefangenenfürsorge, die Notaufnahme in ihrem Haus und der öffentliche Protest gegen eine inhumane Behandlung von Außenseitern dieser Gesellschaft. Zu diesen drei Arbeitsschwerpunkten möchte ich jetzt etwas mehr und genaueres sagen.

Zunächst zur Gefangenenfürsorge: Birgitta Wolf kümmert sich auch nach 1945 persönlich um Menschen, die sich in Notlagen befinden – vor allem um Gefangene, denen sie persönliche Briefe schreibt, die sie in ihrem Gefängnis besucht, denen sie Mut macht, sich persönlich nie aufzugeben, und für deren Belange sie sich gegenüber den staatlichen Behörden einsetzt. Im Laufe ihres Lebens hat sie von ca. 9.000 Gefangenen ca. 60.000 Briefe erhalten, die sich mit der Bitte um Hilfe oder Rat an sie gewandt haben.

Auch bei diesem Teil von Birgitta Wolfs Arbeit fällt auf, dass sie keine Scheuklappen kennt. Sie versucht jedem zu helfen, der sich in seiner Not an sie wendet. Das gilt selbst für den „Henker von Buchenwald“, Gerhard Sommer. Er hat mehr als 20 Jahre Gefängnis hinter sich, als er Birgitta schreibt. Er ist unheilbar krank und bereit, sich mit seinen Taten auseinanderzusetzen. Da organisiert Birgitta, dass ein jüdischer Wissenschaftler, Prof. Steiner, der selbst Auschwitz nur knapp überlebt und dort seine Mutter verloren hat, mit Gerhard Sommer stundenlang sprechen kann. Danach beantragt Prof. Steiner, unterstützt von Birgitta Wolf, die Begnadigung – dies aber ohne Erfolg. In gleicher Weise kümmert sich Birgitta um die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe, bzw. der RAF. Mit insgesamt 17 von ihnen hat sie Briefkontakt und wird später bei Hungerstreiks als Vermittlerin eingeschaltet. In einem Fall engagiert sie sich nach 12 Jahren Haftverbüßung mit großem Einsatz für die Begnadigung durch den Bundespräsidenten von Weizsäcker. Er entspricht ihrem Vorschlag – und er wird dafür in der Öffentlichkeit heftig angegriffen.

Und die Strafvollzugsbehörden – wie haben sie auf diese von den Gefangenen erwählte Ombudsfrau reagiert? Viele zunächst mit Misstrauen und Abwehr. Vom Justizministerium Nordrhein-Westfalen erhält Birgitta Wolf zeitweise sogar ein Hausverbot und Kontaktverbot für alle Anstalten, weil sie in Schweden die Zustände der Anstalt Werl deutlich kritisiert hat. Nach einem persönlichen Gespräch hebt Minister Neuberger die Anordnung dann jedoch wieder auf. Und manchmal geschieht sogar das Gegenteil: 1976 erhängen sich zwei Gefangene in der Hamburger Anstalt Fuhlsbüttel. Eine Gefangenenmeuterei steht unmittelbar bevor. Da bittet der Anstaltsleiter Stark Birgitta Wolf telefonisch, eiligst nach Hamburg zu kommen. Im Kirchenraum der Anstalt darf sie allein, ohne Beisein von Bediensteten zu etwa 300 Gefangenen sprechen. Und es gelingt ihr tatsächlich, die Situation zu entschärfen.

Zweiter Arbeitsscherpunkt Notaufnahme: Seit Ende des Krieges beherbergt Birgitta Wolf in ihrem jeweiligen Haus – zuerst in Grainau, dann in Murnau – Menschen, die vorübergehend ein Dach über dem Kopf brauchen, die Zuwendung suchen und einfach nicht wissen, wo sie sich sonst hinwenden können. Manche kommen aus einer persönlichen Notlage zu ihr – andere direkt aus dem Gefängnis. So liest Birgitta Wolf 1945 eine Zeitungsnotiz über eine 15-Jährige Kriegswaise, die auf der Straße gefunden worden war. Sie hatte wahrheitswidrig angegeben, dass ein Auto sie angefahren hätte. In Wirklichkeit war sie nur erschöpft. Ein Krankenhaus bedeutet ein Bett, Wärme, Essen und Zuwendung. Aber der Schwindel kommt raus. Kurzerhand steckt man sie ins Gefängnis. Als Birgitta das in der Zeitung liest, nimmt sie ihr Fahrrad, fährt zum Amtsrichter und erreicht, dass man ihr das Mädchen gibt. Die 15-Jährige Gerda wird so die erste in einer langen Kette von Menschen, die bei Birgitta nach einem Gefängnisaufenthalt Zuflucht finden. Und es sind durchaus auch ganz andere darunter, wie etwa der 60-Jährige Mann, der 37 Jahre lang wegen Vergewaltigung und mehrfachen Todschlags gesessen hat und der dann bei Birgitta Wolf mühsam lernt, im Alltag einer fremdgewordenen Welt außerhalb des Gefängnisses zurechtzukommen. Viele sind Urlauber aus der Haft, die sonst niemanden haben, der sie aufnehmen will. Das hat ihr beileibe nicht nur die Dankbarkeit der Betroffenen eingebracht. Weil sie auch sogenannte „Verbrecher“ bei sich leben lässt, wird sie immer wieder angefeindet, mit anonymen Schmähbriefen bedacht und erhält Drohanrufe.

Zum dritten Arbeitsschwerpunkt – dem öffentlichen Protest: Die Erfahrungen und Einblicke, die bei Birgitta im Laufe der Jahre durch die Briefkommunikation mit tausenden von Gefangenen und ihren vielen Anstaltsbesuchen entstehen, führen bei ihr bereits in den 60-er Jahren zu einer sehr kritischen Analyse des Deutschen Strafvollzugs. So ist es nur konsequent, dass sie Reformvorschläge ausarbeitet, darüber Vorträge hält, Bücher und Aufsätze zum Strafvollzug publiziert und in Radio- und Fernsehsendungen auf die von ihr wahrgenommenen Missstände hinweist.

Aber an den damals wirklich skandalösen Zuständen in den deutschen Gefängnissen ändert sich deswegen zunächst nichts. Nach wie vor gibt es beispielsweise Anfang der 70-er Jahre den verschärften Arrest in der isolierten Einzelzelle, ohne Schreiberlaubnis und Lesestoff, bei dem die Gefangenen zum Teil wochen- und monatelang auf einem schlichten Brett ohne Matratze schlafen müssen, tagelang nur Wasser und Brot erhalten und so psychisch und physisch gequält werden. Und dies in einem Land, dessen Verfassung den staatlichen Organen verbietet, die körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde seiner Bürger zu verletzen.

Birgitta Wolf entscheidet sich deshalb für eine besondere Form des Protests. Sie schreibt 1970 einen offenen Brief an den Bundesjustizminister, in dem sie diese Missstände anprangert. Ich zitiere daraus einen Satz: „Die Freiheitsstrafe darf nur im Entzug der Freiheit bestehen, nicht in zusätzlichen Schikanen und Demütigungen.“ Sie organisiert eine große Unterschriftenaktion und sie erreicht, dass der offene Brief von fast allen großen Tageszeitungen auszugsweise abgedruckt und in Fachzeitschriften ungekürzt veröffentlicht wird. Die Resonanz, die sie damit erzielt, ist beachtlich, aber der Erfolg, den sie erreichen kann, ebenfalls: Das Bundesjustizministerium teilt ihr schließlich mit, dass der Kabinettsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes im Gegensatz zur Vorlage der Strafvollzugskommission die Möglichkeit des verschärften Arrestes nicht mehr vorsieht.

Trotz dieses ermutigenden Zwischenresultats ändert sich dann jedoch über Jahre hinweg an der Praxis des Strafvollzuges zunächst nur wenig. Und es gibt sogar einen gegenteiligen Trend: Gegenüber RAF-Mitgliedern wird die strenge Isolationshaft angeordnet. Doch da ist es mit der Geduld von Birgitta Wolf zu Ende. Zwischen dem 21. Oktober und 17. November 1974 tritt sie für 27 Tage in den Hungerstreik, um so ihre Solidarität mit 35 Gefangenen zu bekunden, die Mitte September 1974 mit einem Hungerstreik gegen die Verhältnisse im Strafvollzug protestieren. Dieses Mal ist die Resonanz in den Medien noch breiter als vier Jahre zuvor. Birgitta Wolf erhält erneut viel Unterstützung durch Wissenschaftler, Studenten und kritische Bürger. Und steter Tropfen höhlt den Stein. Die Isolationshaft gibt es in der Form, wie sie die RAF-Gefangenen erlebt haben, heute nicht mehr.

Zu diesem Arbeitsschwerpunkt und der damit verbundenen Öffentlichkeitsarbeit will ich abschließend noch ein paar Zahlen nennen: In den letzten 50 Jahren hat Birgitta Wolf ca. 400 Vorträge gehalten und an 90 Rundfunksendungen und 65 Fernsehsendungen mitgewirkt. Sie hat 10 Bücher veröffentlicht, und in weiteren 35 Büchern sind Beiträge von ihr erschienen.

Das, was Birgitta Wolf in diesen drei Arbeitsschwerpunkten geleistet hat, ist jedenfalls in Deutschland einmalig. In unserem Land gibt es keine zweite Person, die sich in den letzten 5 Jahrzehnten derart bedingungslos, engagiert und wirkungsvoll für Gefangene eingesetzt hat. Dass Birgitta Wolf deswegen immer wieder angefeindet worden ist – und dies meist anonym – habe ich bereits berichtet. Erwähnung verdient dann aber auch das hohe Maß an Unterstützung und Anerkennung, das sie erfahren hat. Unterstützung hat sie zunächst in ihrem unmittelbaren Umfeld bekommen – am Anfang von einzelnen Personen, dann durch die Initiative von Erika Sprenger-Steinmüller in Form des gemeinsam gegründeten gemeinnützigen Vereins Nothilfe Birgitta Wolf e.V. Die engagierten Freunde und Helfer, die sich in diesem Verein zusammenfinden, leisten nun schon seit mehr als 40 Jahren großartige Arbeit und sind für Birgitta unverzichtbare Partner, Ratgeber und Kraftquelle gewesen. Und Mut gemacht hat ihr sicherlich auch, dass sie immer wieder öffentlich für ihr Engagement geehrt worden ist. 1966 wird ihr von der Deutschen Gesellschaft für Kriminologie die Beccaria Medaille verliehen. 1971 hat sie ferner den Fritz-Bauer-Preis für Anregungen in Bezug auf Reformen im Strafrecht und Strafvollzug erhalten. 1985 hat sie Carl Gustaf König von Schweden mit der Goldenen Serafimer-Medaille für humanitären Einsatz in Europa geehrt. Ebenfalls 1985 wurde ihr von Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. 1996 folgte der eingangs erwähnte "Courage"-Preis. Und besonders gefreut hat sie sich darüber, dass sie von der Stadt Murnau die Bürgermedaille erhalten hat.

Als ich mit ihr aus Anlass des "Courage"-Preises über all diese Ehrungen sprach, da war es ihr ein richtiges Bedürfnis, mir auch von einer ganz anderen Birgitta zu berichten: von einer Frau, die immer mal wieder verzagt und mutlos war, der die Kraft zu schwinden drohte. Aber dann hat sie erzählt, dass es in solchen Phasen zum Glück in ihrer Nähe immer wieder Menschen gegeben hat, die sie in den Arm genommen haben, die ihr Mut zugesprochen und sie gestützt habe. Mich hat beides damals sehr beruhigt – zum einen, dass sie es sich erlaubt hat, manchmal schwach zu sein, und zum anderen, dass sie dann stets verlässliche Freunde hatte.

Und schließlich gab es da noch eine Birgitta, die wir hier in Deutschland kaum wahrgenommen haben – eine Frau, die in ihrer Muttersprache Gedichte geschrieben und sie in Schweden veröffentlicht hat. Gelegentlich hat sie solche Texte freilich auch in deutscher Sprache verfasst. Eines möchte ich zum Abschluss meiner Rede vorlesen. Veröffentlicht hat dieses Gedicht Pater Drutmar Cremer, ein Mönch des Klosters Maria Laach. Er hatte bei ihr angefragt, ob sie bereit sei, für einen Gebetsband mit dem Titel „Wohin Herr?“ einen Text zu verfassen. Hier nun ihre Antwort:

Herr (wenn es Dich gibt),
ich kann nicht beten,
denn ich habe zu viele Gebete gehört,
die nur Worte waren,
und sie machten mein Herz krank vor Traurigkeit.

Herr (wenn es Dich gibt),
ich kann nicht danken,
denn:
wenn ich Dir danke, weil ich satt bin,
muss ich Dir zum Vorwurf machen, dass Millionen hungern.

Wenn ich Dir danke, dass ich gesund bin,
muss ich Dir zum Vorwurf machen,
dass Millionen siechen.

Wenn ich Dir danke, dass ich glücklich bin,
muss ich Dir zum Vorwurf machen,
dass Millionen an dir verzweifeln.

Denn Du bist allmächtig,
heißt es in den Büchern.

Herr (wenn es Dich gibt),
ich kann nicht beten,
ich kann nicht danken,
ich kann nicht glauben.

Ich kann nur versuchen,
jedem menschlichen Geschöpf,
das mich braucht,
meine Liebe zu zeigen,
und nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu suchen
– das ist mein Gebet.

Ich kann nur versuchen,
neben meinem Bruder,
den die Menschen verachten,
zu stehen,
und mit ihm verachtet zu werden
– und das ist mein Dank.

Ich kann nur unermüdlich weitersuchen
nach der verschütteten Seele
und den Trümmern dessen,
was dein Abbild hätte sein sollen
– das ist mein Glaube.

Herr (wenn es Dich gibt),
gib mir kraft,
so zu beten,
zu danken,
zu glauben!


Prof. Dr. Christian Pfeiffer ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. KfN